Dr. Bettina Reiss-Semmler

Schulische Inklusion als widersprüchliche Herausforderung

Empirische Rekonstruktionen zur Bearbeitung durch Lehrkräfte


Zusammenfassung

Foto: Bettina Reiss-Semmler

Als normatives Konzept mit dem Ziel, alle Kinder optimal zu fördern steht Inklusion in einem Spannungsverhältnis zum bisher selektiv verfassten Schulsystem. Für Lehrkräfte an sich inklusiv entwickelnden Schulen bedeutet dies, dass sie zwischen ihrer eigenen Praxis, einer inklusiven schulischen Programmatik, dem gesellschaftlichen Leistungsverständnis und der schulischen Selektionsfunktion vermitteln müssen. Die Studie untersucht den Umgang mit diesem Spannungsverhältnis anhand von Gruppendiskussionen mit Lehrkräften an sich als inklusiv verstehenden Grundschulen.

Hierzu wird zunächst ein systematischer Blick auf den Inklusionsdiskurs geworfen, wobei transformative, affirmative und vermittelnde Strategien unterschieden werden. Beim als affirmativ beschriebenen Teil des Inklusionsdiskurses wird deutlich, dass dieser Inklusion mehrheitlich als pädagogisch lösbare Herausforderung annimmt. Widersprüche, wie sie aus dem Verhältnis zur schulischen Selektionsfunktion resultieren, werden als nachrangig behandelt.

Methodologisch verortet sich die Arbeit in der praxeologischen Wissenssoziologie und geht entsprechend davon aus, dass die Bearbeitung des oben skizzierten Spannungsverhältnisses als konjunktiver Erfahrungsraum empirisch zugänglich ist. Hierbei nimmt die Studie beispielhafte Grundschulen in den Blick, die schon seit längerer Zeit einer inklusiven Programmatik folgen. Aus Gruppendiskussionen mit Lehrkräften an diesen Schulen werden mit Hilfe der Dokumentarischen Methode zunächst inklusive Spannungsfelder und hieran anschließend fallübergreifende Orientierungen rekonstruiert.

Die rekonstruierten Typen zeigen, dass sich die untersuchten Gruppen vor allem in der Verortung ihrer Problemlösekompetenz unterscheiden. So sieht sich ein Teil der Gruppen (Typ I) selbst in der Lage, die bei der Realisierung von Inklusion entstehenden Herausforderungen erfolgreich zu lösen, während andere Gruppen (Typ II) Externe stärker in der Verantwortung sehen, diese Probleme zu lösen. Hierbei wird eine Parallele zum als affirmativ bezeichneten Teil des Inklusionsdiskurses deutlich: auch empirisch kann bei den Gruppen des Typs I eine Orientierung an der pädagogischen Lösbarkeit der Inklusionsforderung rekonstruiert werden, wobei Widersprüche nicht zum Gegenstand von Metakommunikation werden. In beiden Fällen scheint das hohe normativ-moralische Gewicht der Inklusionsforderung die Ausblendung von Widersprüchen zu begünstigen. Demgegenüber weisen die Gruppen des zweiten Typs Inklusion in Anbetracht der Widersprüche als unrealistisch zurück. Weiter wird an allen untersuchten Schulen eine Orientierung an der bisherigen Verfasstheit des Schulsystems und entsprechend an einem kognitiven Leistungsverständnis als Norm deutlich. Für die künftige Entwicklung inklusiver Schulen scheint es daher notwendig, die bestehenden Spannungsfelder stärker in den Blick zu nehmen und ihre Relevanz für die pädagogische Praxis zu reflektieren.

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