Dr. Juliana Gras
Demokratiepädagogik im Kontext von Inklusion
Ein Modell der Schüler*innenpartizipation im Klassenrat in inklusiven Settings
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund einer von Diversität geprägten demokratischen Gesellschaft, die zunehmend von rechtspopulistischen und antidemokratischen Tendenzen gekennzeichnet ist (Fauser 2019; Hinz et al. 2023), rückt die Notwendigkeit der Demokratiebildung zunehmend in den Blick (BMFSFJ 2020). Schule erweist sich als die Institution, die (fast) alle Kinder und Jugendlichen erreicht. Umso dringlicher wird an sie der Auftrag herangetragen, demokratisches Wissen und demokratische Erfahrungsräume zu eröffnen (KMK 2018). Dabei sind es vor allem demokratiepädagogische Formate, mittels derer Lehrpersonen versuchen, diesem Auftrag nachzukommen.
Parallel dazu stehen bildungspolitisch die Debatte zum Umgang mit einer diversen Schüler*innenschaft und das Thema Inklusion im Fokus. Ausgehend von der schulgesetzlichen Verankerung von Inklusion und den damit verbundenen bildungspolitischen und strukturellen Vorgaben eines gemeinsamen Lernens von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ergeht an Lehrpersonen der Auftrag, in diesem engen Sinne Schule und Unterricht inklusiv zu gestalten. Schulen werden demnach als Orte für die Vermittlung und Umsetzung von Demokratie und Inklusion betrachtet. Damit geht die Aufforderung einher, Partizipation für alle Schüler*innen zu ermöglichen. Der Klassenrat scheint in normativer Perspektive hierfür prädestiniert. Er wird als das Gremium basisdemokratischer Partizipation mit inklusivem Mehrwert diskutiert (Blank 2013; Wocken 2017).
Zwar finden sich Studien zur Wirkung und Gestaltung von Partizipation sowie zum Klassenrat. Der Kontext Inklusion bleibt jedoch unbeleuchtet. Hieran schließt die Studie „Demokratiepädagogik im Kontext von Inklusion“ (Gras 2023) an. Entlang eines an der Grounded Theory orientierten forschungsmethodologischen Zugangs, unter Einbezug multipler Daten (Beobachtungen, Interviews, Gruppengespräche), wurde danach gefragt, inwiefern Lehrpersonen Partizipation im Klassenrat in inklusiven Settings gestalten. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Lehrpersonen in einem Spannungsfeld zwischen Partizipationsermöglichung und -begrenzung bewegen, was sich in der Antinomie zwischen Demokratieerleben-Anleiten und -Begleiten manifestiert: Einerseits haben sie den Anspruch, entsprechend der basisdemokratischen Konzeption allen Schüler*innen Demokratieerleben zu eröffnen und selbst als gleichberechtigtes Mitglied zu fungieren, andererseits versuchen sie Schüler*innen, denen sie die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten zur Partizipation nicht zuschreiben, anzuleiten oder – im O-Ton einer Lehrperson – zu „steuern“. Für Lehrpersonen eröffnet sich auf diese Weise ein Partizipationsermöglichungsdilemma, mit dem sie versuchen mittels verschiedener Strategien umzugehen. Dabei stoßen sie an Reibungsmomente und Grenzen, die teils zu (physischen oder psychischen) exkludierenden Momenten seitens der Schüler*innen führen. Mitunter deuten die Lehrpersonen Partizipation in diesem Zusammenhang für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf Geistige Entwicklung als „Dabeisein“ um. Die Form des „Dabeiseins“ betrachten sie als Lebensweltvorbereitung („gute Übung für das restliche Leben“) und/oder sie legitimieren ihr Handeln anhand der vermeintlich bestehender gesellschaftspolitischer Verhältnisse bzw. im O-Ton einer Lehrperson: das ist die „Konfrontation mit der normalen Welt“. Die in ihrer Perspektive wahrgenommene gesellschaftspolitische Wirklichkeit wird zur Legitimation von Dabeisein oder gar Exklusion herangezogen. Damit geht die Gefahr einher, in Schule (gesellschaftliche) diskriminierende und exkludierende Prozesse zu reproduzieren und ein Bild von Demokratie zu entwerfen, das Diskriminierung und Exklusion als Teil einer (vermeintlich) gesellschaftlichen „Normalität“ suggeriert.
Hiervon wird die Notwendigkeit abgeleitet, Demokratiepädagogik bzw. -bildung in einer inklusionssensiblen Perspektive in den Blick zu nehmen und Lehrpersonen bzw. pädagogische Fachkräfte kritisch für die Partizipationsmöglichkeiten von allen Schüler*innen, insbesondere mit zugeschriebenen Förderbedarfen, zu sensibilisieren, sodass Demokratiepädagogik in Schule im Kontext von Inklusion nicht in einem normativ-programmatischen Heilewelt-Bild verbleibt. Nur so ist es möglich, exkludierende Momente transparent zu machen, diese gemeinsam mit den Schüler*innen bearbeiten zu können und im Sinne der inklusiven Idee zu mehr Chancengerechtigkeit und Teilhabe für alle Menschen beizutragen. Es wird die Notwendigkeit einer verstärkten Thematisierung demokratiepädagogischer Formate unter einer inklusionssensiblen Perspektive abgeleitet und zu einer Reflexiven Demokratiepädagogik angeregt (Gras 2023, 527).
Weitere Publikationen von Dr. Juliana Gras
Gras, J. (2024). Zum Partizipationsermöglichungsdilemma, begrenzter Partizipation und der Forderung einer Reflexiven Demokratiepädagogik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. https://doi.org/10.1007/s11618-024-01263-2
Gras, J. (2024). Zur Verbindung von Demokratiepädagogik und Inklusion in Theorie und (schulischer) Praxis. Zeitschrift für Inklusion Online, 19(2), 114-131. https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/762
Literatur
Blank, J. (2013): Der demokratiepädagogische Klassenrat. In: B. Hartnuß, R. Hugenroth & T. Kegel (Hrsg.): Schule der Bürgergesellschaft - Bürgerschaftliche Perspektiven für moderne Bildung und gute Schule. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 281–289.
BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht: Förderung demokratischer Bildung im Kinder- und Jugendalter. Berlin.
Fauser, P. (2019): Angegriffene Demokratie. In: M. Förster, W. Beutel & F. Peter (Hrsg.): Angegriffene Demokratie? Zeitdiagnosen und Einblicke. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 7–29.
Gras, J. (2023): Demokratiepädagogik im Kontext von Inklusion: Ein Modell der Schüler*innenpartizipation im Klassenrat in inklusiven Settings. Wiesbaden: Springer.
Hinz, A., Jahr, D. & Kruschel, R. (2023): Inklusive Bildung und Rechtspopulismus: Grundlagen, Analysen und Handlungsmöglichkeiten. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
KMK (Kultusministerkonferenz) (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Online unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Staerkung_Demokratieerziehung.pdf. (24.03.2025)
Wocken, H. (2017): Demokratie lernen und leben im Klassenrat. In: R. Kruschel (Hrsg.): Menschenrechtsbasierte Bildung. Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 143–161.