Dr. Theresa Stommel

Bildung und Staunen

Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung


Zusammenfassung

Bildung bestimmt das menschliche Leben und es besteht ein allgemeines Menschenrecht auf Bildung (Art. 24, UN-BRK). Trotzdem ist das Leben bestimmter Personengruppen in Bezug auf Bildung von Diskriminierung, Exklusion und Chancenungleichverteilung geprägt. So gelingt die Entwicklung inklusiver Schule bei bestimmten Personengruppen wenig und entsprechende Schüler:innen bleiben am separierenden Förderschulsystem verhaftet (Lütje-Klose & Sturm, 2022).

Preisträgerin 2024: Dr. Theresa Stommel

Bildungsbezogene Exklusion betrifft Menschen mit sog. geistiger bzw. komplexer Behinderung in besonders schwerem Maße (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder, 2022). Ursachen hierfür lassen sich u.a. in Vorurteilen gegenüber der Personengruppe in Kombination mit einem auf (kognitive) Leistungsfähigkeit ausgerichteten Bildungsverständnis ausmachen (Musenberg & Riegert, 2010). Tradierte Bildungsvorstellungen sind damit maßgeblicher Faktor für Exklusion und verminderte Bildungschancen der betreffenden Personengruppe. Entsprechend relevant sind theoretische und grundlegende Auseinandersetzungen mit erziehungswissenschaftlichen Zentralbegriffen. So wirken sich erziehungswissenschaftliche Konzepte u.a. auf die professionelle Haltung pädagogisch Tätiger aus (Schindler, 2021) und sind Voraussetzung für schulische Inklusion und Professionalisierung von Lehrpersonen (Baumert & Kunter, 2006).

Die Dissertation widmet sich der Problematik unzureichender inklusiver Bildung und mangelnder (kultureller) Teilhabechancen im Kontext geistiger und schwerer Behinderung, weil hier Herausforderungen bzgl. einer inklusiven Bildungspraxis besonders deutlich hervortreten. Die Arbeit verfolgt das übergreifende Ziel, die Bildungs- und Teilhabechancen der Personengruppe zu verbessern. Geleitet wird die Dissertation von der These, dass eine theoretische Untersuchung von Bildung im Kontext geistiger und schwerer Behinderung notwendig ist, um Problemen und Herausforderungen, die sich in der Lebens- bzw. Bildungsrealität der Personengruppe zeigen, konstruktiv zu begegnen.

Vor dem Hintergrund einer phänomenologischen Denkhaltung unterzieht die Arbeit gängige Vorannahmen zu Bildung und Bildungsprozessen einer kritischen Revision. Vor dem Hintergrund eines transformatorischen Bildungsverständnisses (Koller, 2012) pointiert die Arbeit Bildung als Veränderungsprozess in der Erfahrung des Fremden (Waldenfels, 2006) mit kulturellen, ethischen und gesellschaftlichen Ansprüchen (Stommel, 2023). Damit trägt sie zu einem allgemeinen Verständnis von Bildung und Bildungsprozessen bei. Darüber hinaus wird das Phänomen des Staunens als ein für Bildung bedeutsamer Affekt entfaltet. Staunen ist ein Ergriffensein, ein Antworten auf ungeahnte Ansprüche und zugleich dessen Ausdruck. Im Staunen öffnen und weiten sich die Spielräume des Möglichen. Staunen verlangsamt und weitet die Erfahrung und schafft Zeit-Räume für Veränderung (Stommel, 2023).

In diesen Eigenschaften begründet sich das bildungsbezogene Potenzial des Staunens als Grundmoment inklusiven Unterrichts. Staunen erweist sich als elementarer und leiblicher Affekt, der keiner anthropologischen Engführung unterliegt. Insofern ist Staunen für die Weiterentwicklung schulischer Inklusion – sowohl mit Blick auf didaktische Fragen, als auch hinsichtlich pädagogischer Professionalisierung – bedeutsam. Entsprechend gibt die Arbeit erste Impulse für die Umsetzung eines staunenerregenden Unterrichts in der pädagogischen, inklusiven Praxis (Stommel, 2023).

Die Arbeit stiftet einen Diskussionsrahmen, der es ermöglicht, Bildung und Didaktik im Kontext geistiger und schwerer Behinderung anders zu denken, was schließlich die inklusive Praxis positiv beeinflussen kann.

Literatur

Baumert, J. & Kunter, M. (2006). Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9(4), 469–520.

Koller, H.-C. (2012). Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.

Lütje-Klose, B. & Sturm, T. (2022). Förderschule und Inklusion. In T. Hascher, T.-S. Idel & W. Helsper (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (S. 361–383). Wiesbaden: Springer VS.

Musenberg, O. & Riegert, J. (Hrsg.). (2010). Bildung und geistige Behinderung. Bildungstheoretische Reflexionen und aktuelle Fragestellungen. Oberhausen: Athena.

Schindler, A. (2021). Bildung von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung gestalten. Studie zum Bildungsverständnis des heilpädagogischen Fachpersonals. Oberhausen: Athena.

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder. (2022). Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz. Dokumentation Nr. 231 - Januar 2022. Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 - 2020. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Dok231_SoPaeFoe_2020.pdf

Stommel, T. (2023). Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung. Bielefeld: transcript.

Waldenfels, B. (2006). Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.